Dienstag, 30. Mai 2023 | Aktualisiert am 17.05.2015 |
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Thomas Raufeisen, Sohn eines DDR-Spions, sprach am 14. November 2013 vor der 11. Jahrgangsstufe am Ignaz-Taschner-Gymnasium über sein Schicksal, das ihn 1979 von Hannover in die DDR zwang. Sein Vater musste aus Angst vor seiner Enttarnung Hals über Kopf aus Hannover in die DDR flüchten, für die er aus Überzeugung über 20 Jahre lang im Westen spioniert hatte. Seine Frau und die beiden Söhne Michael und Thomas waren entsetzt, denn sie waren nicht nur jahrelang belogen worden, sondern mussten sich nun auch mit dem ihnen fremden und inakzeptablen Leben in der DDR arrangieren. Thomas hatte es plötzlich mit einem völlig skurrilen Schulsystem und absurden Verhaltensweisen seiner Mitschüler zu tun. Abitur, Studium, die ganze Lebensplanung, alle Träume von Thomas waren ausgeträumt.
Schnell realisierte auch der Vater, dass das Leben im real existierenden Sozialismus alles andere als ein paradiesisches Leben war, und seine sozialistische Grundüberzeugung verkehrte sich ins Gegenteil. Fluchtpläne wurden geschmiedet, scheiterten jedoch. Michael Raufeisen, Thomas‘ älterer Bruder, durfte aufgrund seiner Renitenz ausreisen. Der Rest der Familie wurde von der Stasi verhaftet und kam in das MfS-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen, das damals auf dem Ost-Berliner-Stadtplan ein weißer Fleck war. Thomas wurde wegen Landesverrats und versuchter Republikflucht zu drei Jahren verurteilt, seine Mutter zu 7 Jahren und sein Vater zu lebenslänglich. Armin Raufeisen starb in der Haft unter mysteriösen Umständen; Thomas musste alle drei Jahre in Bautzen absitzen, ohne dass er freigekauft wurde, obwohl er auf Freikauflisten des Anwalts Wolfgang Vogel stand. Die Mutter saß ebenfalls ihre 7 Jahre ab und kam erst im Frühjahr 1989 in den Westen.
Abitur und Studium holte Thomas nach; er wohnt heute mit seiner Familie in Berlin, wo er auch Führungen durch das ehemalige MfS-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen macht.
Eindrucksvoll, mit leisen Tönen, schilderte Thomas Raufeisen seinen „Kulturschock“, den er auf seiner unfreiwilligen Reise von West nach Ost erlebte, und man hatte den Eindruck, als sei er bis heute immer noch verwundert und bestürzt darüber, als könne er seine Lebensgeschichte selbst nicht richtig glauben.
Es gibt tausende dieser Geschichten; schließlich gab es in der DDR weit über 200 000 politische Gefangene! Nur wenigen von ihnen ist es gelungen, ihr Schicksal zu verarbeiten und ihre Traumata zu überwinden. Die meisten an ihnen begangenen Verbrechen sind verjährt, die juristische Aufarbeitung insgesamt ist gescheitert. Von tausenden von Ermittlungsverfahren gegen MfS-Mitarbeiter kam es lediglich zu 46 Verfahren, in denen eine Haftstrafe ausgesprochen wurde – im Durchschnitt saßen die Täter nur 2,5 Jahre ab. Nur in Einzelfällen kam es zu Reue oder zu einer Entschuldigung.
Die „Opfer“, die Betroffenen aber leiden ein Leben lang unter dem an ihnen begangenen Unrecht. Die vom ersten Leiter der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU) Joachim Gauck geforderte moralische Aufarbeitung des DDR-Unrechts steht noch aus.
Angelika Neumayer, ITG