Mittwoch, 31. Mai 2023 | Aktualisiert am 20.05.2015 |
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Am 17. März konnten wir am ITG einen der renommiertesten und bekanntesten Historiker, Mitarbeiter bei der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen und Autor einiger Bestseller zur Friedlichen Revolution („Endspiel“) und zur Staatssicherheit („Stasi konkret“) begrüßen:
Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk.
Sein Beitrag gehört zum Begleitprogramm der BStU-Ausstellung „Feind ist, wer anders denkt“.
In seinem lebendigen Vortrag ging Kowalczuk zunächst auf vielfältigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR ein, die aufgrund der zahlreichen Verwandtenbesuche immer lebendig waren, wenn sie auch von den Politikern oft nur in Sonntagsreden erwähnt wurden. Der Mauerfall 1989 löste euphorische Szenen auf beiden Seiten aus, „Wahnsinn“ war das Wort des Jahres. Im Nachhinein gab es viele Visionäre, die das Ende haben kommen sehen wollen – und im Nachhinein gab es immer mehr Gegner der DDR. In Wirklichkeit aber scheute man sich schon lange, für die DDR die Kennzeichnung „Diktatur“ anzuwenden; seit der Ostpolitik war die Rhetorik weicher geworden. In den Medien und in der Politik kam es lang vor 1989 zu einer Weichzeichnung; kaum jemand sprach mehr vom Unrecht in der DDR-Diktatur. Und den Westdeutschen waren Paris oder New York näher als Ost-Berlin oder Rostock. Mit einem Aufkeimen der Deutschen Frage und der Wiedervereinigung hatte kaum jemand gerechnet – und sie stand im Herbst 1989 plötzlich wieder auf dem Tablett der Weltgeschichte.
Kowalczuk legt den Beginn der Entwicklung, die zur sog. Friedlichen Revolution führte, in das Jahr 1980, als sich in Polen die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc formierte, die nicht mehr kanalisiert werden konnte. Gorbatschow, im Westen als „Friedensapostel“ verehrt, beschleunigte die gesellschaftliche Reformbewegung und wurde wider Willen zum „Sargnagel des Kommunismus“. Der gesamte Ostblock geriet in Unruhe, nur in der DDR gab es eine eigentümliche Reaktion. Weiterhin galt: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen. Das kleine, kritische Potenzial in der DDR konnte nun aber auch die unzufriedenen Systemträger mobilisieren, die ab 1986 am Ende ihrer Loyalität angekommen waren. Man verschloss die Augen nicht mehr vor dem desaströsen Zustand der DDR: Im Vergleich zur Bundesrepublik hatte die DDR nur 1/3 deren Produktivität; die Infrastruktur befand sich in einem katastrophalen Zustand; es fehlte der Mittelstand; in der Landwirtschaft wie auch in den übrigen Wirtschaftszweigen herrschte Frustration. Das Gesundheitswesen stand kurz vor Ende der 80er Jahre vor dem Total-Zusammenbruch. Die DDR war Umweltsünder Nr. 1 in Europa. Diese Mangelwirtschaft trat offen zutage, auch für den DDR-Bewohner, der sich nicht für Politik interessierte. Die Alltagsbedürfnisse konnten nicht mehr erfüllt werden, und die Jugend, das eigentliche Zukunftspotenzial im sozialistischen System, wurde immer kritischer. Der Generationenkonflikt wurde von der SED politisiert und damit verschärft.
Dazu kam der Einfluss der West-Medien, die die DDR zunehmend destabilisierten. Es wurde z.B. in dem Magazin „Kontraste“ über die Flucht, die Ausreisebewegung und die Demonstrationen berichtet, sodass die Bilder der Leipziger Montagsdemonstrationen in jedem DDR-Wohnzimmer flimmerten.
Weiterhin betonte der Referent die Rolle der evangelischen Kirche, die den „Oppositionellen“ zumindest Freiräume und Schutzräume bot, obwohl sie sich selbst nicht als Opposition, sondern eher als „Kirche im Sozialismus“ bezeichnete.
Seinen Vortrag schloss Kowalczuk mit einigen kritischen Bemerkungen zu Schabowskis „Zettel“ und der legendären Pressekonferenz vom 9. November 1989. Obwohl die Mauer geöffnet wurde, war die Lage weiterhin aufgrund der Unsicherheit der verbliebenen SED-Führung mehr als unsicher. Schließlich jedoch siegte die Vernunft auch in den Reihen der NVA, sodass es zu keiner Gewalt-Eskalation kam. Insofern ist der Begriff „Friedliche Revolution“ zu rechtfertigen.
Angelika Neumayer, ITG